… Lektüre für die Nacht

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, besonders liebe Neuimmatrikulierte an dieser Hochschule. Lassen Sie mich einige Worte sagen und haben Sie bitte einige Minuten Geduld. Sicher war der Wille, an der Kunstakademie zu studieren, bei Ihnen stark, denn es gab ja auf dein Weg dorthin einige Hindernisse zu überwinden. Sie alle werden sich mit Kunst in irgendeiner Form weiterbeschäftigen, aber Sie werden bald feststellen, dass der Wille allein ein schlechter Motor für die visuelle Erkenntnis ist. Ich habe die Überschrift: "Vom schonenden Umgang mit dem Willen" gewählt, ein Satz des französischen Schriftstellers Michel de Montaigne, der hiermit überhaupt zum ersten Mal 1880 die Form des Essays kreiert hat. Sie stehen auch am Anfang, und die Chancen stellen nicht Schlecht, durch Ihre Arbeit dereinst den Satz wahr werden zu lassen:

Dass ein solcher Mensch gelebt hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden.

Wenn (ich mir die etwas arkadische Bemerkung erlauben darf: Kunst ist die intelligente Einheit von Traum und Tat, so heißt das leider nicht, dass Ihre Arbeit hier ein einziger Traum sein wird. Manchmal werden Sie unverschämt schnell Erkenntnisse gewinnen, Sie schwelgen geradezu in schöpferischer Evokation, manchmal werden Sie mutlos sein, Ihrer emotionalen Landschaft nicht mehr trauen, aber dann schärft sich Ihre Wahrnehmungsfähigkeit wieder, und es geht voran. Manchmal auch anders als man zu wissen meint. Vielleicht ergeht es Ihnen dann, wie dem braven LKW-Fahrer, der 20 Pinguine in den Zoo fahren soll. Auf halber Strecke macht der Motor schlapp. Viele kennen die Geschichte, ich berichte trotzdem weiter. Der Fahrer bastelt also etwa 1 1/2 Stunden am Motor herum, aber nichts rührt sich. Die Tiere tun ihm leid und er hält einen vorbeifahrenden Lastwagen an, und bittet den Fahrer, für 100 Mark die Fracht zu übernehmen. Dieser willigt ein. Nach weiteren 2 Stunden aber hat er's endlich geschafft, das Auto fährt wieder. Der Fahrer kennt Verantwortung, und will zum Zoo fahren, und sehen, ob alle Tiere wohlauf sind.

An einer Kreuzung in der Stadt, das Auto halt, es ist rot, sieht er doch gegenüber aus dem Kino die Pinguine mit dem Fahrer kommen. "Was ist denn nun los?" "Im Zoo waren wir schon, wir hatten noch 50 Mark übrig, und sind ins Kino gegangen. "Sehen Sie, das ist auch ein Hinweis auf die extremen Verzweigungen von Selbsterfahrung und Skepsis in einer Künstlerseele.

Speziell für diejenigen, denen Farbe etwas bedeutet, lese ich den Begleittext zu meiner Arbeit von 1973, der "Farbflugplatz" vor. "Vor etwa sehr langer Zeit landeten die Karben, vom Auge kommend, auf Rollfeldern, um Kontakt mit den Dingen zu bekommen. Dieser Flugplatz ist eine Rekonstruktion im Maßstab 1:1, auf dem die Farben nochmals gelandet sind, was manches Verblasste und Verblichene hoffen lässt". Sie sehen, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies hört nicht auf, aber die Wege dorthin sind rara und rarissina, die intensive Gegenwart will immer wieder neu gewonnen werden, gar nicht so einfach. Sie werden sehen, Ihre künstlerischen Arbeiten werden auch eine Frage des Temperaments sein. Das berühmte Beispiel nenn ich mal, Sie wissen schon: Jean-Dominique Ingres und Bugen Delacroix. Aber merkwürdig, unterm Strich sind alle guten Arbeiten Depots der Stille. Die künstlerischen Materialien werden umgeschmolzen zur Kunst des Entdeckens. Ich selbst wünsche Ihnen Einsicht, nicht Übersicht, ins künstlerische Sein, das heißt, die Erfahrbarkeit der Zeit erfährt in der eigenen Arbeit den Vorgang der Objektivierung. Die Kenntnis der Jkarussage auffrischend, wünsche ich Ihnen auch, dass unter Ihren Händen der Mythos des Künstlers als lonely Cowboy schmilzt, dieses Denken wäre opak-versteckt, nicht gläsern direkt. Machen Sie sich transparent für viele Ideen, das Ideal wäre für alle Ideen, um besser sondieren zu können, was zu einem klaren Bild-Denken führt. Denn die genaue Kenntnis bisheriger Arbeiten und beeindruckendes visuelles Forschen als Mittel der Erkenntnis machen Sie immun gegen das Herstellen schlaffer Artefakte des Blassen. Gelassen verlässt man dann sehr schnell den Modus vivendi des Üblichen, und geht dahin, wo Aktualität des Generellen der Wirklichkeit des Visuellen weicht. Das Ergebnis solchen Arbeitens ist ein physiologisch hinreichender Grund für weiterführende Erkenntnisprojekte. So gewinnt man ein Depot der Zeit, materialabhängig auch ein Depot auf Zeit. Diese Fähigkeit gehört jeden, von Ihnen, sie wohnt in Ihnen, sie gibt sich nicht in Miete.

Visuelles Arbeiten meint, mit dem Licht arbeiten, die Aufgabe des Lichtes für die Farben neu denken. Die Arbeit wird so der Ort des verlangsamten Lichts. Wer auf der enzymatischen Ebene des Auges besteht, der kann dem Statischen misstrauen, und kenntnisreich lachen über die verlorene Herrlichkeit präkonzeptueller Rudereien. Mein eigenes Arbeiten ist auch ein Weiterdenken und Wiederentdecken des Yves Klein'schen Kosmos: von der Distanz der Reinheit zum Genuss der Einheit. Dieser denkt sich die Welt strahlend kosmologisch, ich vielleicht seismographisch-sensorisch. Beiden ist das allermodernste Bilddenken nicht so geläufig: von der Transzendenz zur Ignoranz. Hier in Braunschweig werden Sie Gelegenheit haben, Ihr Verständnis für die lokale Wichtigkeit des visuellen Wertes zu vertiefen. Vielleicht ist hier für Sie die Zone des Lichts und der Ort der Erkenntnis, den Sie sich wünschen, um sich Ihres Denkens und Ihrer Erfahrung zu vergewissern, und um Ihre Aufmerksamkeit für das Bildreale weiter zu destillieren. Liebe Zuhörer, all dies gehört zur Ordnung der Dinge, wie sie im Künstlerhirn platziert ist. Wie einen reparierten Fahrradschlauch taucht man seine neuen Ideen ins Wasser und wartet ab, ob sie dicht sind und schwimmfähig. Für die Maler unter Ihnen sei angemerkt, das Sie hoffentlich nicht zu denen gehören, die mit dem Pinsel in der Farbe randalieren, sondern sich auf den autonomen Entstehungsprozess eines Bildes einlassen, so dass dieses Wort seinen Sinn behält, ein gutes Mittel, um Déjà-vu Experten in Schach zu halten. Alle künstlerischen Arbeiten, die faszinieren, haben die Qualität des gut durchdachten Ungenauen. Dies ist die Chance des Künstlers, diesem mobilen Ort der Machtlosigkeit, keineswegs der Ohnmacht, denn die freigesetzte Fantasie führt uns in den imaginierten Raum der Ungewissheit, und somit zur Frage nach dem geistigen Raum der Kunst. Vor einigen Jahren wanderte ich mit meinem Freund, dem dänischen Filmer Ole John , durch Lappland. Es war spannend zu sehen, wie er sieht, wie er anders sieht als ich, wo er hinsieht, wo er wegsieht, wenn die Beine müde wurden, ließ er die Augen weiterwandern. Er wollte nicht sehen wollen, ich sage nicht, er wollte nichts sehen. Es war sogar ein äußert schonender Umgang mit dem Willen. Und so erfahren wir etwas davon: die Kunst ist keine Travestie einer Lebensform, wen sie liebt, den liebt sie enorm. Vielleicht heißt es, einen Film zu machen, einen modellhaften Versuch über die modulierte Zeit zu machen, und den Zeitvorstellungen des dänischen Prinzen Hamlet verpflichtet, kann man sagen, sein oder nicht sein, die sanfte Präge in gedehnter Zeit.

Wenn alles gut geht, werden Sie mit großem Wohlbehagen die Erkenntnis gewinnen, dass Erfahrung verstandene Wahrnehmung ist, dann wird das Gedächtnis das Ding, mit dem man vergisst. Dann haben Sie nie Langeweile, und die Zeit wird reif für eine Überraschung: Sie werden selbstständig, das Vernachlässigte wird jetzt Inhalt und Kenntnisse werden Erkenntnisse. Das Denken und So sein und somit das Dasein brauchen keine Hierarchie.

Als Künstler braucht man nicht bellicos zu sein, gleichwohl kann er durch seine Arbeit jede Form von Gleichgültigkeit destabilisieren, am besten wäre es wohl, immer illusionslos unterwegs zu sein, dann braucht man nicht die Simulation als den Versuch, der Illusion der Welt zu entkommen, 'was für den Künstler das Ende wäre. Das muss nicht sein, und Montaigne weiß Rat: "Die Schönheit ist im Umgang mit der Welt eine große Empfehlung, es ist der vornehmste Kitt, der die Menschen miteinander verbindet, und kein Mensch ist so barbarisch, oder milzsüchtig, auf den ihr Reiz nicht einigermaßen wirke.“ Vielleicht ist das ein wichtiger Grund dafür, dass italienische Maler wie Simone Martini oder auch Pontorro mich immer wieder beschäftigen, sie zeigen eine neue reale Welt, weit weg vom Depressionsmus weiter Teile unserer Kunstlandschaft, die das Atmen erschwert und die Seele verzehrt.

In und um Braunschweig gibt es sehr viel Grün, wie mir auffällt, vielleicht wäre das Anlass genug, über die Möglichkeit in der Landschaftsmalerei heutzutage nachzudenken. Damit mochte ich nicht gesagt haben, dass "dies hier eine Art Schule des Grüns werden sollte, angereichert mit dem kunsttheoretischen Wissen eines alten Chinesen aus dem Jahre 1072, der universal informativ meint: "Wasserläufe sind die Blutgefäße der Berge, Pflanzen und Bäume ihr Haar, Nebel und Wolken die Zeichen ihrer Stimmung, Felsen sind die Knochen von Himmel und Erde, Wasser ist ihr Blut" Ja, wahrhaft köstlich-fernöstlich. Bei der heutigen Wasserqualität wäre eine Blutvergiftung wohl unvermeidlich, und mein Vorschlag wird bizarr und fragil, wir leben in einer Welt des viel zu viel. Das kann ich von meiner Kindheit nicht unbedingt sagen, sie war glanzlos aber aufschlussreich, und korrigiert die Legende vom Künstler der vom Himmel fällt. Viele Jahre wohnte ich an der Ostsee, und habe all das erlebt, was Urlaubsprospekte dem schlaffen Erholungspflichtgen nicht bieten können: den Erwerb einer ersten eigenen Welt über viele Jahre hin. Dort bildete sich damals vielleicht die Zone in meinem für jene Zeit vermuteten Traumbewusstsein, in der ich heute die visuelle Formulieren des fortlaufenden Erlebens gesehener und neu hinzugefügter Landschaften ich chtonischunter und empyräisch überentwickelt. Wodurch wird Verstehen und Erkennen angekurbelt, und wo? Bei mir früher vielleicht auf dem Weg zum Strand. Heute noch genieße ich die seltenen Gelegenheiten, mich herauszutasten aus der süßen Beschränktheit meines Daseins ohne zwingenden Grund. Der Künstler wohnt an der Bernsteinküste, er umschließt das Lebendige, aber vernichtet es nicht. So lebt er mit einer maßvollen Exotik, und braucht nicht die Angst vor dem Verlust, modern zu sein, als chronischen Spleen zu bekämpfen, wenn er klug ist. Ich möchte sagen und möchte wünschen, dass jeder von Ihnen einen Neuanfang macht, ausgestattet mit der eigenen Sensibilität, und dem Wunsch nach einer Neufassung der Realität. Nur dann haben die alten Realitäten ausgedient. Dann ist in Ihrem Kopf immer die Zeit des Mythos mit ihrem unerschöpflichen Bildervorrat, und Sie werden sich fühlen, wie ein Fisch im Wasser, und obenauf die Wellen, von denen Aischylos sagt, die seien das unzählbare Lächeln des Meeres. Sollten Sie trotz dieser Vorschläge dereinst reich und berühmt sein, dann genießen Sie die Transformation des Satzes: Vom schonenden Umgang mit dem Willen in den schonenden Umgang mit den Villen, und reservieren Sie mir dort ein Atelier mit schöner Aussicht, und ich nenne es dann Bellosguardo.

Ich wünsche Ihnen alles Gute und bedanke mich fürs Zuhören.



Bernd Minnich

Okt. 1991